Ich bewusstsein im sport

Im Sport ist das Ich ein kraftvolles Werkzeug. Es treibt uns zu Höchstleistungen, formt unsere Identität und gibt uns das Selbstvertrauen, Risiken einzugehen und unsere Ziele zu verfolgen. Doch das Ich, wie wir es kennen, ist nicht so fest und unerschütterlich, wie es scheint.

Das Ich im Sport: Eine nützliche Fiktion und ihre Grenzen

In der Welt des Sports spielt das Ich eine zentrale Rolle. Es treibt uns an, lässt uns über uns hinauswachsen und vermittelt ein starkes Gefühl der Identität und des Selbstwerts. Athleten streben nach Erfolg, Anerkennung und Selbstverwirklichung, und das Ich ist oft der Motor, der diese Bestrebungen antreibt. Doch es gibt eine tiefere Dimension des Ichs, die verstanden werden muss, um wahres Meisterschaftsniveau zu erreichen. Das Ich, so wie wir es oft verstehen, ist eine Konstruktion – eine nützliche Fiktion, die uns helfen kann, aber auch unsere größte Hürde sein kann, wenn sie nicht richtig verstanden wird.

Das Ich, wie es von Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftlern beschrieben wird, ist nicht so stabil und einheitlich, wie es erscheint. P.D. Ouspensky, ein russischer Philosoph, argumentierte, dass das Ich aus vielen verschiedenen, oft widersprüchlichen kleinen Ichs besteht, die sich ständig abwechseln. Diese kleinen Ichs sind unsere unterschiedlichen Wünsche, Ängste, Hoffnungen und Identitäten, die von Moment zu Moment wechseln. Im Sport kann das bedeuten, dass das Selbstbewusstsein, das man auf dem Spielfeld zeigt, nur eine von vielen Facetten des Ichs ist.

G.I. Gurdjieff, ein spiritueller Lehrer und Ouspenskys Mentor, lehrte, dass Menschen in einem Zustand des „Schlafes“ leben, kontrolliert von diesen vielen kleinen Ichs. Sein Ziel war es, ein einheitliches, zentrales Ich zu entwickeln, das durch bewusste Selbstarbeit und „Erinnerung an sich selbst“ entsteht. Für Athleten bedeutet dies, dass das starke, selbstbewusste Ich, das sie oft kultivieren, eine bewusste Schöpfung sein sollte, die durch Selbstbeobachtung und inneres Arbeiten gefestigt wird. Ein Athlet muss sich seiner selbst bewusst sein, um seine vielen Ichs zu integrieren und in Einklang zu bringen.

Hans Vaihinger, ein deutscher Philosoph, bot eine andere Perspektive. In seiner Theorie des „Als ob“ argumentierte er, dass viele unserer Überzeugungen und Konzepte, einschließlich des Ichs, nützliche Fiktionen sind. Diese Fiktionen helfen uns, die Welt zu navigieren und zu verstehen, auch wenn sie nicht notwendigerweise eine objektive Realität widerspiegeln. Für Sportler bedeutet dies, dass das starke, entschlossene Ich, das sie kultivieren, eine Fiktion ist, die ihnen hilft, ihre Ziele zu erreichen. Es ist ein Werkzeug, das nützlich ist, solange es als solches erkannt und genutzt wird. Aber wenn man sich zu sehr daran festhält, kann es auch hinderlich werden.

Neurowissenschaftler wie Antonio Damasio und Daniel Dennett haben gezeigt, dass das Ich eine Konstruktion des Gehirns ist. Damasio argumentierte, dass das Selbst das Ergebnis komplexer neurobiologischer Prozesse ist. Das Gehirn erzeugt ein kohärentes Bild unserer Identität, indem es sensorische Informationen und Erinnerungen integriert. Daniel Dennett beschrieb das Selbst als eine narrative Konstruktion, die aus den Geschichten entsteht, die das Gehirn über die eigenen Erfahrungen erzählt. Diese Erkenntnisse unterstreichen, dass das Ich eine flexible und dynamische Konstruktion ist, die sich ständig verändert und entwickelt.

Für Athleten bedeutet dies, dass das starke, selbstbewusste Ich, das sie oft kultivieren, auf den Geschichten basiert, die sie sich selbst erzählen. Diese Geschichten können mächtig und motivierend sein, aber sie sind auch veränderlich und können angepasst werden, um den aktuellen Bedürfnissen und Herausforderungen besser zu entsprechen. Das Verständnis, dass das Ich eine Konstruktion ist, kann Athleten helfen, flexibler und anpassungsfähiger zu sein. Sie können lernen, ihr Ich bewusst zu gestalten und zu verändern, um bessere Leistungen zu erzielen und mit den Herausforderungen des Sports effektiver umzugehen.

Ein starkes Ich ist im Sport zweifellos wichtig. Es gibt Athleten das Selbstvertrauen, das sie brauchen, um Risiken einzugehen und ihre Grenzen zu überschreiten. Es motiviert sie, hart zu arbeiten und sich zu verbessern. Doch es gibt auch Bereiche, in denen das Ich hinderlich sein kann. Im Zustand des Flow, wie ihn der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi beschreibt, verschwindet das bewusste Ich und der Athlet geht vollständig in seiner Tätigkeit auf. Dieser Zustand völliger Vertiefung und Konzentration ermöglicht es Athleten, ihre besten Leistungen zu erbringen, ohne durch Selbstzweifel oder übermäßiges Nachdenken behindert zu werden.

Das Erreichen des Flow-Zustands erfordert das Loslassen des Ichs. Es bedeutet, sich vollständig dem Moment hinzugeben und die Kontrolle aufzugeben. Dies kann schwierig sein, besonders für Athleten, die gewohnt sind, ihr Ich zu kultivieren und zu stärken. Doch es ist eine wesentliche Fähigkeit, die erlernt werden muss, um auf höchstem Niveau zu konkurrieren. Der Flow-Zustand zeigt, dass das Ich, obwohl es ein nützliches Werkzeug ist, manchmal im Weg stehen kann. Indem man lernt, das Ich loszulassen und sich dem Moment hinzugeben, kann man tiefere Ebenen der Leistung und des Genusses im Sport erreichen.

Sportler können auch von der Praxis der Achtsamkeit profitieren, um ihr Verhältnis zum Ich zu verstehen und zu transformieren. Achtsamkeit lehrt, im gegenwärtigen Moment zu sein und Gedanken und Gefühle ohne Urteil zu beobachten. Diese Praxis kann Athleten helfen, sich ihrer verschiedenen Ichs bewusst zu werden und sie zu integrieren. Durch Achtsamkeit können sie lernen, das starke, selbstbewusste Ich zu nutzen, wenn es hilfreich ist, und es loszulassen, wenn es hinderlich ist. Diese Flexibilität ermöglicht es ihnen, auf verschiedene Situationen im Sport und im Leben anpassungsfähig und kreativ zu reagieren.

Ein weiteres Konzept, das für Athleten nützlich sein kann, ist die Idee des „Nicht-Selbst“ im Buddhismus, auch bekannt als Anatta. Der Buddha lehrte, dass das Selbst eine Illusion ist und dass Anhaftung an das Ich die Ursache von Leiden ist. Diese Lehre kann Athleten helfen zu erkennen, dass das starke Ich, das sie kultivieren, nicht die Gesamtheit dessen ist, was sie sind. Indem sie die Illusion des Ichs durchschauen, können sie mehr Freiheit und inneren Frieden finden. Dies bedeutet nicht, dass sie aufhören sollten, ehrgeizig zu sein oder ihre Ziele zu verfolgen, sondern dass sie dies mit einem tieferen Verständnis und weniger Anhaftung tun sollten.

Das Verständnis des Ichs als eine flexible und dynamische Konstruktion kann Athleten auch helfen, besser mit Misserfolgen und Rückschlägen umzugehen. Ein starkes, aber starres Ich kann dazu führen, dass Misserfolge als Bedrohung der Identität wahrgenommen werden. Wenn das Ich jedoch als eine flexible Konstruktion verstanden wird, kann Misserfolg als eine Gelegenheit zur Anpassung und zum Lernen gesehen werden. Diese Perspektive fördert Resilienz und die Fähigkeit, aus Fehlern und Rückschlägen zu wachsen.

Ein starkes Ich kann auch zu Konflikten und Konkurrenzdenken führen, nicht nur mit anderen, sondern auch innerhalb des eigenen Geistes. Sportler, die sich stark mit ihrem Ich identifizieren, können sich leicht bedroht fühlen und in Konkurrenzsituationen aggressiv oder defensiv reagieren. Ein flexibles Verständnis des Ichs ermöglicht es Athleten, ihre Wettbewerbsnatur zu nutzen, ohne von ihr überwältigt zu werden. Sie können ihre Energie und Motivation in konstruktive Bahnen lenken, anstatt sich in destruktiven Mustern des Vergleichs und der Rivalität zu verlieren.

Die Praxis des Loslassens und der Achtsamkeit kann auch dazu beitragen, ein tieferes Gefühl der Verbindung und Gemeinschaft zu fördern. Sportler, die verstehen, dass das Ich eine Konstruktion ist, können ihre Teamkollegen und Gegner als wertvolle Partner in ihrem eigenen Wachstum und ihrer Entwicklung sehen. Diese Perspektive fördert Zusammenarbeit und gegenseitigen Respekt und kann zu einem harmonischeren und unterstützenderen Umfeld führen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Ich eine nützliche Fiktion ist, die Athleten helfen kann, ihre Ziele zu erreichen und ihre Leistungen zu verbessern. Es ist ein Werkzeug, das bewusst genutzt und gestaltet werden kann, um den eigenen Erfolg zu fördern. Gleichzeitig ist es wichtig zu erkennen, dass das Ich nicht die Gesamtheit dessen ist, was wir sind. Es ist eine Konstruktion, die flexibel und veränderlich ist, und manchmal muss sie losgelassen werden, um tiefere Ebenen der Leistung und des Wohlbefindens zu erreichen.

Sportler, die lernen, ihr Ich bewusst zu kultivieren und gleichzeitig die Illusion des Ichs zu durchschauen, können eine tiefere Ebene der Meisterschaft erreichen. Sie können in den Flow-Zustand eintreten, ihre Resilienz stärken und ein Gefühl der Verbundenheit und Zusammenarbeit fördern. Indem sie das Ich als flexible Konstruktion verstehen, können sie anpassungsfähiger und kreativer auf die Herausforderungen des Sports und des Lebens reagieren. Dies ist der Weg zu wahrer Meisterschaft und innerem Frieden.

© Copyright by Thomas Zerlauth, Sport-Mental-Coach
Dieser Text stammt aus dem Sport-Mentaltrainings-Buch „The Magic Zone“ – Wie Gewinner denken. Das Geheimnis der Gewinner.